Viel war im
Vorfeld dieser Endrunde über die satturierten Iberer gemunkelt worden. Eine
Weltmeisterschaft, zwei Europameisterschaften, sie hätten doch eh bereits alles
gewonnen. Und jünger würden sie auch nicht, Xavi, Iniesta, Casillas und wie sie
nicht alle heißen. Mit dem Debakel zum Einstand mag sich der eilige Kritiker
bereits in der Rolle des Propheten wähnen, die Jungs von Vicente Del Bosque
aber bereits nach dem ersten Spieltag abzuschreiben, könnte fatal nach hinten
losgehen. Denn Fakt ist, auch in Südafrika 2010 verlor die furia roja ihr
erstes Gruppenspiel gegen die Schweiz (0:1), was folgte ist ja hinlänglich
bekannt. Außerdem ist anzunehmen, dass das Spiel gegen den - zumindest am
Papier - schwierigsten Gruppengegner hinter den Spaniern liegt, bei allem
Respekt Chile sowie Australien eher nicht an das Niveau der Oranjes rankommen.
Zudem ist es für einige Stars die womöglich letzte Teilnahme an einer
Weltmeisterschaft, wer da glaubt, ein Vollprofi wie Xavi gibt nur mehr 90 Prozent,
weil der Titel ohnehin schon auf seiner Visitenkarte steht, irrt wohl. Und zu
guter Letzt: das Ergebnis selbst. Ein Schuss vor dem Bug zur richtigen Zeit.
Defensive: Kompaktheit, Druck
Harsche
Kritik musste Bondscoach van Gaal für seine am Papier unorthodoxe Formation
einstecken; viel zu defensiv sei diese. Und auch für den kolossalen Umbruch. Die
drei Innenverteidiger Vlaar, de Vrij und Martins Indi wurden an den Flanken von
Janmaat (rechts) und Blind unterstützt und bildeten quasi eine Fünferabwehr. Außerdem
sollten davor de Guzman und besonders de Jong ordentlich staubsaugen. Für kreative
Glanzzeichen war lediglich das Trio Sneijder-Robben-van Persie vorgesehen.
Die
vermeidliche Fünferabwehr entpuppte sich bei genauerer Betrachtung schließlich
doch als Viererkette und unterstütze de Guzman und de Jong situationsbedingt im
defensiven Mittelfeld. Dies funktionierte so, dass der ballnahe
Innenverteidiger (hier Martins Indi) heraustritt und als zusätzlicher
defensiver Mittelfeldspieler für Druck sorgt. Die Außenverteidiger rücken ein,
sodass im Abwehrzentrum gegen die spanischen Angreifer weiterhin in Überzahl
agiert wird. Der Abwehrblock war schließlich kein 5-2, sondern ein aggressives
4-3.
Auch in der
folgenden Szene, das selbe Bild. Wieder tritt Martins Indi aus dem
Abwehrzentrum heraus und agiert als zusätzlicher Aggressor im Mittelfeld. Ein
weiterer Erfolgsfaktor, war die mannschaftliche Kompaktheit der Elftal. Bei
gegnerischem Ballbesitz, verengten die zehn niederländischen Feldspieler den
Raum in der Tiefe auf gerade einmal etwa zwanzig Meter.
Noch krasser wurde die Situation, wenn der
Weltmeister über die Flügel angriff. Nachdem die Niederlande nicht nur in der
Tiefe den Raum auf etwa zwanzig Meter verengten, wurden sie nun in der Breite
zusätzliche von der Seitenlinie unterstützt. Zudem rückten die Außenspieler (hier
Robben und Blind) bis zur Mitte des Spielfeldes ein und verengten den
bespielbaren Raum für die Iberer zusätzlich, sodass alle zehn niederländischen
Feldspieler auf einer Fläche von gerade einmal 700 Quadratmeterlauerten.

Die
Auswirkungen dieses massiven Mittelfeld- und Abwehrpressings finden sich neben
dem Spielstand, auch in den Statistiken wieder. Spieler, die normalerweise an
die hundert Pässe pro Match spielen, erreichten ihre Form nicht einmal
ansatzweise: Xavi (78), Busquets (73), Iniesta (68), Xabi Alonso (60). Die
taktische Disziplin der gesamten Elftal, auch Sneijder, Robben und van Persie
verteidigten für ihre Verhältnisse tief in der eigenen Hälfte, die räumliche
Enge bei spanischem Ballbesitz und das sofortige Unterdrucksetzen waren wohl die
Hauptgründe weswegen der Weltmeister nicht in der Lage war sein kultiviertes
Kurzpassspiel aufzuziehen.
Offensive: Lange Bälle hinter die
Abwehr
Schließlich
hatte Louis van Gaal in der Offensive ein für niederländische Verhältnisse
wahrlich untypisches Mittel parat: lange, hohe Zuspiele. Schon im Halbfinale
der Champions League zeigte Real Madrid gegen Bayern München, wie schnelle
Spieler einen hochstehenden Gegner verwunden können. Dies versprach auch freitags
Erfolg. Kurz vor dem Ausgleich wurde Robin van Persie nach einen Flugball von
Martins Indi noch wegen Abseits zurückgepfiffen (36.). Wenige Minuten später
war ein ähnliches Zuspiel von Blind auf den selben Adressaten erfolgreich. Auf
den Ausschnitten ist zu erkennen, dass van Persie beim Abspiel von Blind noch
gut dreißig Meter bis zur gegnerischen Torlinie vor sich hat, also massig Raum.
Den Sprint beginnt van Persie allerdings schon bei der Ballmitnahme von Blind,
da sind es sogar noch etwa 35 Meter. Wunderbar zu erkennen ist auch die längere
Reaktionszeit von Sergio Ramos im Vergleich zu van Persie. Ist der Niederländer
im ersten Ausschnitt noch zwei Meter hinter Ramos, aber bereits voll in der
Bewegung, hat der Niederländer im zweiten Ausschnitt bereits einen Meter
Vorsprung auf den jetzt erst startenden spanischen Innenverteidiger.


Das 2:1 war
dann fast eine Kopie des Ausgleichs. Blind mit einem gehobenen Zuspiel aus dem
linken Halbfeld, in den Rücken des ballnahen Innenverteidigers. Robben deutet
per Bogenlauf mustergültig einen Sprint die Linie entlang an und driftet ins
Zentrum. Auf Grund der verzögerten Reaktion und der ohnehin geringeren
Geschwindigkeit hechelt Pique Robben bereits meterweit hinterher. Ramos rückt
wiederum zu spät ins Abwehrzentrum und rechnet darüber hinaus erst gar nicht,
dass der Flügelspieler von Bayern München Blinds Zuspiel direkt verarbeiten könnte,
wodurch der Innenverteidiger von Real Madrid seinen Laufweg anpassen muss und
wiederum Distanz zu Ball und Gegner verliert.

Ähnliches
Bild beim fünften Treffer. Der Ball befindet sich am Strafraum der
Niederländer, die spanische Abwehr steht demnach sehr hoch. Sneijder leitet mit
einem langen Zuspiel 23 Meter vor dem eigenen Tor(!) auf Robben den Konter ein.
Zu diesem Zeitpunkt steht Ramos, der letzte Verteidiger und später dann Gegenspieler
im Sprintduell, etwa 15 Meter näher am Tor der Spanier als Robben. Weil sich
Ramos beim Zuspiel aber nicht sofort fallen lässt und darauf spekuliert Robben
noch in einen Zweikampf zu verwickeln, ist der Raumvorsprung für Ramos bereits
an der Mittellinie egalisiert. Damit ist es ihm nicht mehr möglich das Spiel zu
verzögern um Unterstützung durch Mitspieler zu erhalten oder Robben zu lenken
und verstrickt sich damit in ein Sprintduell mit Robben.
Fazit
Defensiv
machten die Niederländer die Räume für den Weltmeister fast schon zynisch eng
und verschoben in diesem kompakten Block dermaßen diszipliniert, sodass es für
die Spanier kaum Möglichkeiten gab sich mit Hilfe ihres geliebten Tiki-Taka
durch das engmaschige Defensivnetz der Niederländer zu kombinieren. Ballbesitz
ist nun mal nicht alles. Van Gaals Jungs machten auch in der Abwehr des
Weltmeisters die Schwachstellen aus: Der gewaltige Raum hinter der
hochstehenden Abwehr, der durch Zuspiele auf die flinken van Persie und Robben
handbuchmäßig genutzt wurde. Diese zwei taktischen Vorgaben könnten gegen die
Spanier bestimmt auch noch von anderen Nationen mustergültig umgesetzt werden,
von den taktisch hervorragenden Italiener mit Immobile und Insigne, Deutschland
mit den schnellen Müller, Schürrle und Podolski oder die robusten Argentinier
mit di Maria, Messi und Agüero.